Besuch der KZ-Gedenkstätte Neuengamme

„DOCH WAS DEM ABGRUND KÜHN ENTSTIEGEN, KANN DURCH EIN EHERNES GESCHICK DEN HALBEN WELTKREIS ÜBERSIEGEN, ZUM ABGRUND MUSS ES DOCH ZURÜCK“

Bericht von Dr. Leopold

Mit diesem Goethe-Zitat aus ‚Des Epimenidis Erwachen‘ konfrontierte die Weiße Rose im Jahr 1942 mittels ihres ersten Flugblattes ausgewählte Personen im süddeutschen Raum und forderte sie zum passiven Widerstand gegen Hitler auf. Zu diesem Zeitpunkt tobte in Europa der Zweite Weltkrieg und die deutsche Vernichtungspolitik hatte mit dem Massenmord an Juden in den Konzentrationslagern begonnen. Nach Meinung von Sophie Scholl hatte die deutsche Intelligenz versagt und ein Regime geduldet, das die Menschlichkeit abgeschafft und Europa in den Abgrund gestürzt hatte. Ein deutscher Widerstand gegen die Nazis existierte lediglich in unkoordinierten Einzelaktionen; zu groß war die politische Verblendung, die das Volk ergriffen hatte und bereitwillig von der Bildung unterstützt wurde.  Erziehung und Bildung waren gleichgeschaltet und willige Helfer des Unrechtsstaates. Aus diesen Gründen konnten Konzentrationslager zu gigantischen Tötungsfabriken wachsen und eine stillschweigende Duldung in der Bevölkerung des Dritten Reiches erlangen.

Unter anderem um solche Verbrechen in der Zukunft zu verhindern, gehört im Rahmen des kritischen Geschichtsunterrichts auch an der Peter-Ustinov-Oberschule Hude der Besuch einer KZ-Gedenkstätte zum verpflichtenden Programm für alle Schülerinnen und Schüler der neunten und zehnten Klassen: Die Stille der Anlage, die zurückhaltende Gestaltung des Geländes sowie die zahlreichen Originaldokumente und erschütternden Exponate führten auch am 19.10. dieses Jahres wieder Lernende der 10Rb zu großer Nachdenklichkeit und Entsetzen. Beide Reaktionen sind angesichts einer Zeit mit zunehmender politischer Radikalisierung wünschenswert, um nicht erneut ein politisches und menschliches Versagen ganzer Generationen beklagen zu müssen. Der Besuch der Gedenkstätte Neuengamme in Hamburg ist Teil der modernen Aufklärung und soll politische Verblendung durch reaktionäre Agitatoren verhindern helfen und jeglicher Ideologisierung vorbeugen. Wissens- und Gewissensbildung sind wichtige Instrumente gegen das Vergessen und für die Menschlichkeit – Ideale, für die auch der Namensgeber unserer Schule eintrat. Aus diesen Gründen muss intensiv an der Ausbildung von kognitiver, aber auch sozialer Intelligenz gearbeitet werden, um weit über das Schulleben hinaus, freiheitliche und brüderliche Werte in der Gesellschaft verankern zu können.

Das Konzentrationslager Neuengamme diente den Nazis als Arbeits- und Vernichtungslager. Hier wurden unter unmenschlichen Bedingungen in bis zu vierzehnstündigen Arbeitsschichten Lehm aus den Tongruben gegraben, Ziegel gebrannt, aber auch Waffen für die Rüstungsindustrie zusammengesetzt. 

Im Gefängnisbunker der Anlage erhängte die SS anfangs zahlreiche Gefangene, bis man dazu überging, diese öffentlich auf dem Appellplatz zu exekutieren. Der Bunker wurde mindestens für zwei Massenvergasungen genutzt und in den Krankenbarracken spritzten Ärzte und Helfer unzählige Kranke und Verletzte mit Phenol zu Tode. Insgesamt starben in den Jahren 1938 – 1945 mehr als 42.000 der etwa 100.000 Gefangenen durch Exekution, Folter, Hunger, Krankheit oder Bombardierung. 1944 wurden von Josef Mengele, SS-Arzt in Auschwitz, 20 Kinder im Alter von fünf bis zwölf Jahren nach Neuengamme verbracht, um dort für medizinische Versuche im Feld der Tuberkuloseforschung missbraucht zu werden. Den Kindern, denen man unter größten Schmerzen in Flüssigkeit gelöste TBC-Bakterien mittels Schläuchen in die Lunge träufelte, wurden später bei örtlicher Betäubung Lymphdrüsen entfernt, um die körperlichen Reaktionen auf die eintretenden Vergiftungen zu testen. Im April 1945 erging der Befehl die Kinder und andere Mitwisser aus Gründen der Vertuschung des Verbrechens zu töten. Alle zwanzig schwer kranken Kinder wurden daraufhin in der Nacht vom 20. auf den 21. April im Keller der Hamburger Schule am Bullenhuser Damm von SS-Leuten erhängt. Einige der Beteiligten an den Experimenten und Morden konnten nach dem Krieg sogar straffrei in der Bundesrepublik und in der DDR weiter leben und arbeiten.

Angesichts der unendlichen Leiden der Nazi-Opfer fällt es bis heute schwer, nachzuvollziehen, warum sowohl das Konzentrationslager Neuengamme als Justizvollzugsanstalt, als auch die Schule am Bullenhuser Damm als Grundschule, nach dem Krieg noch Jahrzehnte weiter als öffentliche Einrichtungen genutzt werden konnten!? Erst seit 2005 befindet sich auf dem Gelände des ehemaligen KZ in Neuengamme eine Gedenkstätte, die ein würdiges Andenken an die Menschen ermöglicht, denen unser Volk das Leben nahm.

Auch wenn es die wenigen menschlich denkenden Widerstandskämpfer nicht mehr erlebten, so ging das Nazi-Regime im Mai 1945 doch dorthin, woher es kam: zum Abgrund. Die Hoffnung von Sophie Scholl und ihren Mitstreitern ging spät, viel zu spät in Erfüllung. Heute ist es unsere Aufgabe, zu verhindern, dass gleiches wieder passieren kann. Den Schulen kommt deshalb gerade heute wieder die eklatant wichtige Aufgabe zu, für das Erinnern, das Entwickeln von Menschlichkeit und das kritische Denken bei unseren Jugendlichen zu sorgen. Damit wir nicht nur auf eine schmale und zerbrechliche Bildungselite angewiesen sind, setzen wir heute auf die Breitenwirkung einer demokratischen Erziehung, die aber nur so stark werden kann, wie ihre tief empfundene und begründete Abscheu vor jeglicher extremistischer Gewalt verankert wird. Das fällt gerade aus der zeitlichen Distanz, in der wir uns nunmehr zur Nazizeit befinden, umso schwerer. Die Relevanz von Geschichts- Politik- und Religionsunterricht sind dabei nicht zu unterschätzen, aber Besuche von KZ-Gedenkstätten fördern die Empathie besser als jedes Lehrbuch und können helfen, die Verantwortung zu verinnerlichen und weiterzutragen.

Text: Dr. Joest Leopold

Fotos: Jana Bork

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