DER HERR IST MEIN HIRTE, NICHTS WIRD MIR FEHLEN?


Sozialkritische Fotografie und Collage 

WPK Politik 9R

„Die Zukunft liegt in unseren Händen“, Collage, Schülerarbeit 2019 

 

Deutschland gehört bekanntlich zu den reichsten Staaten der Welt. Per Gesetz ist die staatliche Fürsorge geregelt, die verhindern soll, dass Bürger unseres Landes in außerordentliche wirtschaftliche Not geraten und daran scheitern. Geschuldet ist diese Fürsorge zum einen der christlichen Wertegemeinschaft, in der wir uns nach wie vor grundsätzlich befinden und zum anderen den Erfahrungen, die wir in den 1920er Jahren gemacht haben. Um armutsbedingte Protestwahlen, sie begleitenden Rassismus und in der Folge extremistische Tendenzen in der Staatsführung zu verhindern, wurde von den Gründungsvätern der Bundesrepublik Deutschland Vorsorge getroffen. Ein erneutes Desaster, wie das der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft,  galt es mit allen demokratischen Mitteln zu bannen. Dennoch macht sich heute sukzessive das Gespenst der unmenschlichen Gewaltspirale aus Armut, Ausgrenzung und Extremismus erneut bemerkbar und feiert in Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus „fröhliche Urständ“. Der Ruf nach immer schärferen Gesetzen – im Übrigen auf beiden Seiten – ändert nichts an den Ursachen politischer Verblendung, sondern spitzt den gesellschaftlichen Konflikt eher noch zu. Es bedarf vielmehr einer effektiven Bekämpfung des Phänomens „Sozialer Abstieg“, um den Nährboden für menschenverachtende Ideologien auszutrocknen. Nach wie vor stehen Bildung und gegenseitiger Respekt an der Spitze des Maßnahmenkatalogs gegen Armut und Ausgrenzung, doch muss erkannt werden, dass der Staat in besonders schwierigen Situationen wieder stärker unterstützend eingreifen sollte: Dort, wo wirtschaftliche Perspektivlosigkeit in soziale Ausweglosigkeit mündet und den gesellschaftlichen Rand verbreitert, ist der Sozialstaat gefordert und ethisch verpflichtet, fürsorglich aufzutreten. Ein so reiches Gemeinwesen wie die Bundesrepublik Deutschland kann es sich nicht leisten, den Rand zu vernachlässigen, da von dort die Gefahren drohen, die schon einmal die deutsche Demokratie zerstört haben.

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„Der Herr ist mein Hirte…“, Foto und Filzstift, Schülerarbeit 2019 

Dieser Rand befindet sich im Übrigen mitnichten lediglich an der polnischen Grenze, sondern begegnet uns auch im Herzen des kapitalistischen Systems: in den Einkaufsstraßen der finanzkräftigen Großstädte. Hier begegnen wir mitunter deutlichen Gegensätzen zwischen Arm und Reich, die nachdenklich stimmen sollten, aber sehr oft nur zu Trotz führen, weil man als Beobachter Angst hat, sich mit dem Thema zu beschäftigen und an Konsequenzen zu arbeiten. Der oft aus Scham gespendete Euro an Obdachlose hilft uns, das positive Shoppingerlebnis zu bewahren und das mahnende Gewissen zu befriedigen. Den Bedürftigen am Rand der Gesellschaft hilft die Gabe aber nur bedingt, da sich ihre Situation dadurch nicht grundlegend verbessert. Um nicht erneut diese Bürger und ihre stillen Freunde in den unterbezahlten Jobs an die Konkurrenz der Demokratie zu verlieren, bedarf es von staatlicher Seite deutlich besserer Fürsorge; ansonsten drohen Zustände, die unser System selbst an den Rand drängen – an den Rand der Existenz.

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Arbeitslosigkeit und Hunger in der Folge der Weltwirtschaftskrise von 1929

Die Schülerinnen und Schüler des Wahlpflichtkurses „Die politische Fotografie“ an der Peter-Ustinov-Schule in Hude haben sich in Hamburg auf eine anonymisierte Spurensuche begeben, um Armut, Hunger und den kontrastierenden Reichtum in der Metropole zu dokumentieren. Herausgekommen sind verblüffende Parallelen zur Armut während der Weltwirtschaftskrise in der Weimarer Republik und zu ihren Begleitumständen. Die erschütternde Ästhetik der Fotos und Collagen wird überwiegend durch christliche Zitate als Bildtitel noch gesteigert, da diese zur aktiven Stellungnahme auffordern. Nur die direkte Konfrontation mit den Problemen kann zuverlässig zu einer empathischen Grundhaltung gegenüber den Hilfsbedürftigen führen und Forderungen generieren, die den Sozialstaat kompromittieren. 

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„Ihr Kinderlein kommet“, Foto, Schülerarbeit 2019 

Aus diesem Grund recherchierten die Lernenden direkt vor Ort. Betrachtet man die fotografischen Ergebnisse, so drängt sich eine Forderung auf: Es gilt, erneut nachhaltige staatliche Fürsorge bereitzustellen, da die Bürger des Landes dem gewaltigen Armutsproblem in Deutschland nicht gewachsen sind. 

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„Kyrie Eleison“, Collage, Schülerarbeit 2019 

 

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Armut in der Spätphase der Weimarer Republik

Private und religiöse Hilfen sind und bleiben ehrenwert, ersetzen aber nicht die Pflichterfüllung der Regierung und ihrer Haushalte. Ganz im Gegenteil: Private Wohltätigkeit birgt auch immer die Gefahr der unbotmäßigen Einflussnahme auf Politik und Staat, wie zahlreiche Beispiele der „Charity-Kultur“ aus den USA belegen. Wer im großen Stil spendet, erwirkt ein Mitspracherecht…

Unsere Bilder sollen im Kontrast zu den biblischen und liturgischen Botschaften zum Nachdenken anregen und das gesellschaftliche Selbstverständnis hinterfragen helfen. Die fotografische Arbeit ist Teil der Demokratieschulung und kann als kleiner Baustein der politischen Grundbildung verstanden werden – ein Baustein, der das Fundament der sozialen Marktwirtschaft wieder festigen soll. Diese Form der Marktwirtschaft, die in Anlehnung an die alte bundesdeutsche Hauptstadt auch „Rheinischer Kapitalismus“ genannt wird, stellt Pflichten wie die Fürsorge des Staates ins Zentrum und lehnt neoliberale Privatisierungstendenzen ab. Die oftmals angesprochene christliche Grundhaltung von Staat und Bevölkerung entpuppt sich mittlerweile als zum Teil heuchlerisches Lippenbekenntnis, dem es an tatkräftiger Umsetzung mangelt. Bergpredigt und Dankespsalmen zeichnen lediglich ein freundliches Bild, obgleich die christliche Botschaft ohne menschliche Tatkraft eine schöne Theorie bleibt. Die politische Tendenz der Gegenwart, Verantwortlichkeiten in die Hand von nichtregierungsgebundenen Organisationen abzugeben oder zu privatisieren und zunehmend auf die Eigeninitiative der engagierten Bürger zu hoffen, muss mit Sorge betrachtet werden, da das staatliche Gemeinwesen dadurch an Menschlichkeit verliert. Parteien, die sich christ- und sozialdemokratisch nennen oder diese Ansprüche mit in Koalitionen nehmen, sollten sich fragen, wie hoch ihr christlich-selbstloser oder sozialer Part in der Politik sein muss, um dem selbstgewählten Namen zu entsprechen?! Es gibt nämlich eine soziale Verpflichtung des Staates jenseits von ökonomischer Effizienz und Haushaltsdebatten…

Lässt man das organisierte Betteln verbrecherischer Gruppen – das manchmal nicht vom bedürftigen Betteln zu unterscheiden ist - außer Acht, bleibt immer noch ein erheblicher Teil wahrer Bedürftigkeit übrig. Angesichts voller Staatskassen darf diese Ungerechtigkeit nicht hingenommen werden. 

 

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„Brich mit den Hungrigen das Brot“, Collage, Schülerarbeit 2019 

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„Morgenglanz der Ewigkeit“, Foto, Schülerarbeit 2019 

Mit dieser Arbeit einher geht die Sehschulung, die explizit darauf ausgerichtet ist, Lernenden nicht nur Bildaufbau und ästhetische Grundlagen, sondern kritische Kompetenz im Bereich der Inhaltsanalyse zu vermitteln. Somit stehen unsere Arbeiten also im Zusammenhang von Sozialkritik, Politik und Kunst und fungieren als interdisziplinäre Umsetzung von Erinnerungsleistungen für das kollektive Gedächtnis der Gesellschaft. Nur wer „vor Augen führt“,  erreicht auch nachhaltig die Menschen!

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„Die Gute Nachricht?“, Foto und Farbkopie, Schülerarbeit 2019 

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„Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen…“, Foto und Farbkopie, Schülerarbeit 2019 

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„Reiche müssen hungern“, Foto und Farbkopie, Schülerarbeit 2019 

Text und Fotos: Dr. Joest Leopold

 

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