Auf der Suche nach den Resten des Amerikanischen Traumes - Schüler im Haus der Fotografie
Bericht von Dr. Joest Leopold
(Alec Soth: ohne Titel)
Warum, ach sag, warum
geht nun die Sonne fort?
Schlaf ein, mein Kind, und träume sacht,
das kommt wohl von der dunklen Nacht,
da geht die Sonne fort.
Der amerikanische Fotograf Alec Soth hat sich in den vergangenen Jahren intensiv mit dem amerikanischen Traum und seinen Schattenseiten auseinandergesetzt. Im Fokus seiner Aufnahmen stehen Menschen und ihre Werte wie Freiheit, Individualität und die überall in den USA zu spürende Frömmigkeit. Dabei führt ihn sein fotografischer Weg vor allem in den Mittleren Westen der USA, das geografische Herz des Staatenbundes. Die Motive, die er findet, stehen im krassen Gegensatz zur Postkartenromantik touristischer Verklärung und zeigen fragile Momente im alltäglichen Leben amerikanischer Bürger sowie Details einer Landschaft, der das Großartige abhanden gekommen ist. In seiner Fotoserie „Sleeping by the Mississippi“ konfrontiert Soth die Betrachter mit den wenig beachteten Ausschnitten einer irritierenden Realität zwischen Sonnenseite und Finsternis, Glorie und Tristesse im Umfeld des zweitlängsten nordamerikanischen Flusses. Beim Betrachten der Fotos schleicht sich unweigerlich der Eindruck ein, die morbid-asoziale Dunkelheit überlagere streckenweise den „amerikanischen Traum“ wie ein Alb. Angesichts dieser Fotos fällt es dem Europäer schwer, den Stolz der Amerikaner nachzuempfinden, den diese trotz der offensichtlichen Zerrissenheit von Gesellschaft und Landschaft verspüren.
(A.Soth:ohneTitel)
Unser Amerikabild ist in erster Linie durch Bilder des Erhabenen und Mächtigen geprägt. In einer Zeit, in der der Informationsgehalt von Bildern aller Art stark politisiert ist, konsumieren wir diese gedankenlos und lassen uns von den gezeigten Klischees nachhaltig beeinflussen: Die Great Plains, der Indian Summer in Neuengland, der Yellowstone- und der Yosemite-Nationalpark stellen nur wenige der imposanten Hochglanzeindrücke dar, die uns leicht begeistern. Gewalt gegen Minderheiten, die militärische Aufrüstung und eine rauhe politische Kultur stehen diesen Impressionen zur Seite. Der offensichtliche Widerspruch bedarf einer unterrichtlichen Thematisierung, um die daraus erwachsenden Fragen beantworten zu können.
Um Schülern jenseits einer vorkonfektionierten Illustration Kompetenzen im Bereich des kritischen Sehens zukommen zu lassen, sollte eine stringente Reduktion von Bildinhalten und gleichzeitig der Aufbaus eines Bildsinnes, der den Weg zur Interpretation des Geschauten beleuchtet, angestrebt werden. Im Vorfeld des Ausstellungsbesuchs unserer Schüler im Haus der Fotografie in den Hamburger Deichtorhallen, dem bedeutendsten Fotokunstmuseum Europas, wurde bereits eine Sensibilisierung für den Blick auf politische Kunst eingeleitet. Ziel des Wahlpflichtkurses „Die politische Landschaft“ im Jahrgang 9 ist es, Sehgewohnheiten zu verändern und Wahrheiten abseits ausgetretener Seh-Pfade zu erkennen und zu reflektieren. Dabei spielen Verlangsamung und Kontemplation eine außergewöhnlich große pädagogische Rolle. Neben Bildern deutscher Künstler geraten wegen der geschichtlichen Tiefe des deutsch-amerikanischen Verhältnisses selbstverständlich auch immer wieder amerikanische Künstler oder Motive in den Fokus des Unterrichts. So gilt es, die Bedeutung des „american dream“ und seiner Auswirkungen auf die Demokratisierung Deutschlands genauso zu untersuchen, wie das Selbstverständnis des bedeutendsten Bündnispartners mittels ausgewählter Bilder zu analysieren. Hierbei hilft den Schülern der gründliche Aufbau einer kritischen Kompetenz des Sehens mehr, als das kurzzeitliche Lernen aus Texten. Darüber hinaus werden Lernprozesse deutlich nachhaltiger verinnerlicht, wenn sie zudem über eine subjektive Betroffenheit mittels der Begegnung, z.B. im Museum, eingeleitet werden.
Das kritische Sehen bedarf einer solchen Betroffenheit, da die Rezeption mehrdimensional funktioniert und emotional-soziale und kognitive Wahrnehmungswege gleichermaßen beansprucht. Bildanalysen sind deshalb verpflichtender Bestandteil des Methodentrainings an der Peter-Ustinov-Schule in Hude. So auch im Politikunterricht, wo diese interdisziplinär durchgeführt werden und den Weg zum mündigen und kritischen Bürger ebnen sollen. Sie helfen die eigene Realitätsverarbeitung zu reflektieren, begründet Stellung zu beziehen und mit Respekt anderen Meinungen gegenüberzutreten.
(Alec Soth: Kym, Minneapolis)
Warum, ach sag, warum
gehn manche Hand in Hand?
Schlaf ein, mein Kind, und träume sacht,
das kommt wohl von der dunklen Nacht,
da geht man Hand in Hand.
Adressat jeglicher politischer Meinung ist natürlich immer eine Gemeinschaft. Ob im Großen oder Kleinen – im Staat oder in der Schule, spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle. Das Zusammenleben anderer Gruppen färbt auch auf unser Leben ab und so wundert es nicht, dass der Blick in die Fremde hilft, eigene gesellschaftliche Prozesse zu hinterfragen und neu zu durchdenken. Die multikulturelle Gesellschaft der USA ist langsam gewachsen und hat unserer deutschen Variante einiges voraus – im positiven wie im negativen Sinn. Doch kritische Vergleiche fördern erstaunliche Parallelen zu Tage, mit Hilfe derer wir Chancen und Probleme gemeinschaftlich angehen lernen können. Alec Soth‘ Blick - auch auf die multikulturellen Aspekte der USA - vermittelt respektvolle Kritik und mahnt uns Außenstehende vor schleichender gesellschaftlicher Isolation und wachsendem Egoismus wie sie in der dunklen Nacht des ungebremsten Kapitalismus entstehen. Ausgrenzung, Verarmung und Fremdenhass sind oftmals die Folge. Kooperation und Kompromissbereitschaft sollen deshalb nicht nur im Politikunterricht an der Oberschule Hude frühzeitig gefördert werden, sondern finden Eingang in die schuleigenen Lehrpläne aller Fächer. Im Sinne Peter Ustinovs geschieht dies durch eine Humanisierung des Schullebens, in dem vielfältiges Leben und Lernen gleichberechtigt nebeneinander stehen und für erfahrungsorientierte Lernprozesse miteinander – quasi Hand in Hand - sorgen sollen. Die Stärkung sozialer Kompetenzen steht deshalb an vorderster Stelle unseres erzieherischen Wirkens. So erreichen unsere Schüler mit dem Blick in die amerikanische Fremde erhellende Einblicke in eine sozialgeografische Dokumentation, deren Klammer nicht in der Darstellung des romantischen Ol‘ Man River, sondern in den zahlreichen Details kritischer Aspekte des Zusammenlebens am Rande der drittgrößten Küstenregion der USA zu finden ist. Wenn die Schüler befähigt sind, solche versteckten Kohärenzen zu entdecken und auf ihre eigene Lebensgestaltung zu beziehen, kann aus der kritischen Bildkompetenz ein politisches Gespür entstehen, das eine brüderliche Gesellschaft des gegenseitigen Respekts unterstützt, in der man hinter die Fassaden schaut und das Versteckte, das nie Beachtete wahrnimmt und dadurch das Andere akzeptiert. So wird von Anfang an ein Sozialklima in der Peter-Ustinov-Schule geschaffen, das Ausgrenzung vermeiden hilft.
In einer weiteren Fotoserie mit dem Titel „Broken Manual“ spürt Soth die Rückzugsräume amerikanischen Krimineller und Aussteiger auf, deren Leben er in hintergründigen Fotos nachzeichnet. Den Aspekt der informativen Dokumentation vernachlässigt er dabei ganz bewusst. Vielmehr erinnern uns die Bilder an assoziative Blitzlichter, die aus einem Nebelmeer der sozialen Kälte an uns vorüberziehen. Die Fotos zeigen verstörende Details aus dem zurückgezogenen Leben sozial verarmter Menschen, die vor der Gemeinschaft geflohen oder von ihr ausgestoßen worden sind. Für sie ist der amerikanische Traum definitiv zum Albtraum mutiert. Die Begegnung mit diesen Bildern schafft Einblicke in die sozialen Randbereiche der amerikanischen Kulturen und soll der Sensibilisierung für menschliche Werte wie Nächstenliebe, Fürsorge und Liebe im allgemeinen dienen, die es politisch zu unterstützen und umzusetzen gilt. Das ist zwar eine anspruchsvolle Kollektivaufgabe, die aber zu einer funktionierenden Solidargemeinschaft führen kann. Die alttestamentarische Moral zahlreicher Amerikaner, die einen beredten Ausdruck in der Maxime des ‚Auge um Auge‘ findet, führt nur zu herzlosen gesellschaftlichen Irrwegen wie der Todesstrafe, die lediglich ein Instrument der Rache gegenüber Ausgestoßenen darstellt. Demgegenüber steht unser Weg der Integration und Toleranz, dem sich bereits die Schule verpflichtet hat und dem wir täglich folgen. Lernen findet hierbei auch mit dem Herzen statt, so dass die kindlichen Fragen des diesen Bericht begleitenden Gedichts aus dem Kontext von Angst und Resignation gelöst und nun mit dem Vertrauen in die Gemeinschaft beantwortet werden können, die niemanden auf der Schattenseite im Dunklen allein lässt.
Warum, ach sag, warum
ist unser Herz so klein?
Schlaf ein, mein Kind, und träume sacht,
das kommt wohl von der dunklen Nacht,
da sind wir ganz allein.
(W. Borchert, Abendlied, o.J., verlegt 1946)
(Alec Soth: Execution)
Text: Dr. J. Leopold
Fotos: J. Borg