DIE WÜRDE DES MENSCHEN IST UNANTASTBAR ? ENTINDIVIDUALISIERUNG UND ANONYMITÄT
10Ra und 10Ga in den Deichtorhallen
Derzeit leben schon etwa 7,5 Milliarden Menschen auf der Erde und die Entwicklungstendenz bleibt steigend. In zunehmendem Maße konzentrieren sich die Massen auf die Städte, in denen bereits mehr als die Hälfte aller Menschen wohnt. Einen nicht unerheblichen Anteil daran haben die so genannten Mega-Cities und ihre Agglomerationen, die vor allem in Asien und Lateinamerika unübersehbar wuchern und zunehmend außer Kontrolle geraten.
Der deutsche Fotograf und zweifache Preisträger des World Press Foto Award, Michael Wolf, dokumentiert seit Jahrzehnten die Lebenssituationen und ihre Auswüchse in diesen urbanen Zentren und kommt dabei in seinen Arbeiten den Strukturen sehr nahe, die der Mensch geschaffen hat, um sein Leben jenseits der Individualität zu organisieren. Die Fotos zeigen wabenartige Architekturen, deren Unterschiede häufig nur durch differierende Fassadenfarben zu erkennen sind.
Michael Wolf: Architecture of Density
Ein Leben auf neun Quadratmetern, in Einraumapartments - Zellen gleich, die nach mathematischer Logik an- und aufeinander gereiht sind - führen anonyme Massen in ostasiatischen Städten wie Hongkong, wo Wolf selbst zehn Jahre lebte und andere beobachtete. Doch vor allem faszinierten ihn in jenen 1990er Jahren die an patterns erinnernden Häuserfronten, die uns - die wir überwiegend in freistehenden Einfamilienhäusern wohnen - irritieren und abstoßen. Assoziationen zu Wohnraumverknappung und Immobilienverteuerung drängen sich dem Betrachter unweigerlich auf und lassen ein ungutes Gefühl der sozialen Ungerechtigkeit zurück.
Fenstern gleich, hängen die Fassadenbilder im Hamburger „Haus der Fotografie“ von der Decke und ermöglichen Ausblicke auf diese Wohnmonster, hinter deren Wänden kaum menschliche Lebewesen vermutet werden können.
Am Rande der Ausstellungshalle haben die Kuratoren eine Installation aufgebaut, die einen neun Quadratmeter großen Raum darstellt, der mit unzähligen Fotos dieser Kleinapartments und ihrer Bewohner „tapeziert“ ist. Die Gesichter der Bewohner schauen den Betrachter meistens direkt an, manchmal freundlich, manchmal trotzig, manchmal stolz, manchmal abwesend und undurchdringlich. Es fällt sehr schwer, sich in die Gedanken, ja in die Gefühlswelt, dieser Menschen hineinzuversetzen und eine Beziehung aufzubauen. Wolfs Bilder einer versteckten Gesellschaft, die in der Anonymität der Masse unterzugehen droht, rütteln an unserer Hoffnung, die soziale Isolation in unseren Kulturen noch umgehen zu können.
Michael Wolf: 100x100
Angesichts einer solchen Habitatsentwicklung mit totaler Entindividualisierung und Vereinsamung, kommt den sozialen Kompetenzen der Interaktion im Gemeinschaftswesen eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu. So genannte soft skills müssen deshalb vermehrt in Schule und Unterricht erlernt werden, um der Gefahr von Anonymisierung zu entgehen und unser individualisiertes Gemeinwohl durch Kommunikation zu stärken! Nur sozial kompetente Schüler können ein positives Verhältnis zur Gemeinschaft und damit zur Demokratie aufbauen. Ohne die Empathie verlieren wir uns in einer entindividualisierten und geradezu entmenschlichten Gesellschaft, in der der Einzelne zum Leistungsfaktor einer Effizienzperversion degradiert wird!
Michael Wolf: the real toy story
Betrachtet man die zentrale Foto-Installation Wolfs, the real toy story, so ist man relativ schnell von der bunten Eintönigkeit genervt, der man sich wegen des Reliefcharakters aber kaum entziehen kann: Überall bleibt der Blick haften. Die unpersönlichen Gesichter hinter den in China massenhaft produzierten und hier applizierten Plastikspielzeugen tauchen aus der Tiefe der Installation auf und mahnen uns, den Wert und die Würde jedes einzelnen Menschen zu erhalten. Doch mangelhafte Arbeitsethik und gesellschaftliche Anonymität gehen an vielen ostasiatischen Produktionsorten Hand in Hand und verführen effizienz- und gewinnorientierte Unternehmer mit grenzenloser Prosperität. Dabei negieren sie die Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens und ihre humanistischen Ideale. Am Vorabend einer globalen Katastrophe liegt es in unserer Hand, ob wir die kapitalistischen Ziele zügeln und die Weichen für den Erhalt einer Gesellschaft mit individualisiertem Antlitz stellen wollen…
Joest Leopold: Für Ré Soupault, 2019
Joest Leopold: …die Nacht ist vorgedrungen…, 2019
Text und Fotos: Dr. Joest Leopold