IN MEMORIAM…Bjelaja Zerkow, 22.08.1941 - Kindermord in der Ukraine


In diesem Jahr jährt sich zum achtzigsten Male eines der erschütterndsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit: Der Kindermord von Bjelaja-Zerkow während des Zweiten Weltkriegs. 

Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion, am 22.06.1941, marschierte die Wehrmacht in kurzer Zeit bis in die Zentralukraine. In der südlich von Kiew gelegenen Kleinstadt erschossen deutsche Wehrmachts-, Polizei-, und SS-Angehörige binnen einer Woche im August 1941 zuerst etwa 900 erwachsene Menschen jüdischen Glaubens. Die Erschießungen fanden etappenweise in den frühen Abendstunden statt und wurden von Obersturmführer Häfner des Sonderkommandos 4a der Einsatzgruppen an der Ostfront befehligt. Die berüchtigten Einsatzgruppen dienten dem Nazi-Regime zur planmäßigen Vernichtung der Zivilbevölkerung, vor allem in der Sowjetunion. Hinter der kämpfenden Truppe zogen sie mordend durchs Land und töteten zwischen 600000 und 1,5 Millionen Menschen. Für ihre Massenmorde konnten die Einsatzgruppen jederzeit auf freie Kapazitäten der Wehrmacht und der Ordnungspolizei des Deutschen Reiches zurückgreifen, so dass immer genügend freiwillige Mörder zur Verfügung standen! Ihre Verstrickungen in die Mordtaten der Einsatzgruppen stellte Wehrmacht und Polizei auf eine gemeinsame niedrige Stufe menschlichen Versagens.

Um den Massenmord in Bjelaja-Zerkow einfacher organisieren zu können, ließ Häfner die etwa 90 jüdischen Säuglinge und Kleinkinder im Alter von wenigen Monaten bis sieben Jahren durch ukrainische Kollaborateure am 18.08.41 von ihren Eltern trennen und in ein leerstehendes Haus am Stadtrand verschleppen und dort ohne Nahrung und Wasser in zwei Zimmern im zweiten Stockwerk einsperren, während die älteren Kinder am Abend des 19. August ermordet wurden. Bereits nach einigen Stunden waren die Zustände in den überfüllten Räumen wegen der kontinentalen Augusthitze und den andauernden Ausscheidungen der Kinder unerträglich. Die hungernden Kinder kratzten Mörtel von den Wänden und aßen diesen aus Verzweiflung. Ihr Schreien und das Wimmern der schwächeren Babys lockte Anwohner des besetzten Ortes an, die entsetzt über die Zustände sprachen. Der deutsche Divisionsgeistliche katholischer Konfession forderte die Wehrmacht daraufhin auf, das Haus weiträumig abzusperren, damit die ukrainische Bevölkerung nicht mitbekommen sollte, was dort geschah! Es galt, den Ruf der Wehrmacht zu schützen! Schließlich lud man nach tagelangen Diskussionen die 90 Kleinkinder am 21.08. auf Wehrmachts-LKW und fuhr sie an einen unbekannten Ort. Die Wehrmacht begann wohl am Morgen des 22.08. mit dem Aushub einer Grube am Waldrand bei Bjelaja-Zerkow und fuhr nachmittags die Fahrzeuge mit den Kindern in die Nähe derselben. Auf Befehl der SS mussten die ukrainischen Kollaborateure unter der Aufsicht von deutschen Wachen die Kinder erschießen. Deutsche Soldaten führten sie gruppenweise an den Grubenrand und die Milizionäre schossen unkoordiniert in sie hinein. Auf manche Kinder wurde vier bis fünf Mal geschossen, bevor sie starben…

Die verlogene Haltung der deutschen Streitkräfte, die dazu führte, dass der Mord selbst durch gedungene ukrainische Hilfskräfte durchgeführt werden musste, zeigt, dass kein Mittel zu schmutzig war, um die rassistische Ideologie der Nazis umzusetzen. Man selbst berief sich hier noch scheinheilig auf die eigene Vaterrolle, zuhause im Reich, um sich die Finger scheinbar nicht zu schmutzig zu machen…

Entsprechend der nationalsozialistischen Ideologie durften andere Völker in der angestrebten Weltordnung keine Rolle mehr spielen. So wurde mit Nachdruck und religiös anmutendem Eifer die Bevölkerung der im Osten eroberten Länder vernichtet. Dabei wurde vor Kindern und Babys kein Halt gemacht. Johanna Haarer, die bekannteste Frauenärztin im Deutschen Reich, veröffentlichte Ratgeber für Schwangere und Mütter, deren Inhalt auf die faschistische Ideologie abgestimmt war und nur den deutschen Frauen eine zweifelhafte Pflicht attestierte:

„Auf uns Frauen wartet als unaufschiebbar dringlichste die eine uralte und ewig neue Pflicht: der Familie, dem Volk, der Rasse Kinder zu schenken.“ (Haarer, Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind, 1934)

Die rassistische Verblendung in Deutschland war indes so groß, dass die faschistische Ideologie aufging und Mütterlichkeit nur auf das eigene Volk bezogen und den Müttern und Kindern anderer Völker kein Lebensrecht mehr erteilt wurde. Haarer, die rassenpolitische Sachbearbeiterin im Dritten Reich war, überlebte den Krieg und starb 1988 als überzeugte Nationalsozialistin. Ihr Ratgeber wurde bis 1981 – leicht entnazifiziert - mehrmals neu aufgelegt und überall in der bundesrepublikanischen Berufs- und Fachschulausbildung weitergenutzt…

 

„Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“, Fotomontage des Buchtitels mit Kriegsopfern, J. Leopold 2020

Das tagelange Leid der von ihren Eltern getrennten Kinder und ihre Ermordung können nicht ausreichend in Worte gekleidet werden. Aus diesem Grund haben die beiden neunten Realschulklassen an der Peter-Ustinov-Schule zu Hude künstlerische Installationen als Mahnmale gegen den Rassenwahn und für die stille Erinnerung an die Opfer geschaffen. 

Die intensive Arbeit im Rahmen des Erinnerungsprojektes steht dieses Mal in direktem Zusammenhang mit biblischen Versen aus der Offenbarung des Johannes; mit Versen, die den Lernenden besonders eindrücklich erschienen und die Hilflosigkeit heutiger Kinder und Jugendlicher angesichts solcher Gräueltaten zum Ausdruck bringen können:

„Als das Lamm das vierte Siegel öffnete, 

hörte ich die Stimme des vierten Lebewesens rufen: Komm!

Da sah ich ein fahles Pferd,

und der, der auf ihm saß, heißt der‘Tod‘;“

(Offb 6,7)

 

„Verlorene Seelen“ Fotomontage aus Reichspostwertzeichen mit Stukamotiv und osteuropäischen Kindern während eines deutschen Luftangriffs, Fotoarbeit J. Leopold 2021

 

Um das grausame Verschwinden von Kindern durch Mord zu symbolisieren, gibt es nur wenige würdevolle Möglichkeiten der Darstellung. Da uns keine Bilder der jüdischen Kinder zur Verfügung stehen, haben wir zum einen stellvertretend alte Kuscheltiere und Kinderschuhe zu einem Haufen zusammengefügt und diesen fotografiert. Dieser Haufen korreliert mit den Wertstoffhaufen in den Konzentrationslagern der Nazis, die ihre Opfer gründlich ausbeuteten, aber auch mit den Gedenkhaufen, die heute häufig an Orten von Kindstötungen zusammengefügt werden. Größtmögliche persönliche Nähe wurde dabei durch die Tatsache erzielt, dass es sich durchgängig um eigene familiäre Exponate handelt, mit denen wir die Opfer ehren wollen. Das auf einer Fliesdecke gedruckte Bild füllt nun einen selbstgezimmerten Rahmen mit martialischer Stacheldrahtapplikation, der das tagelange Leiden der Kinder in ihrem Gefängnis symbolisiert. Zum Schutz des Reliefs und um die Sicherheit der Lernenden zu gewährleisten, stiftete uns die Firma Plexiglas Jung eine Schutzscheibe. Für dieses bürgerliche Engagement möchten wir uns ganz herzlich bedanken.

„Komm und sieh!“, Die Kinder von Bjelaja-Zerkow, Wandrelief der 9Ra (Holz, Flies, Stacheldraht und Plexiglas)

 

 

Zum anderen wurde von der Parallelklasse ein Fallenbild in der Art des Schweizer Gegenwartskünstlers Daniel Spoerri gestaltet. Die Fallenbilder Spoerris, mit denen er seit den 1960er Jahren an die Öffentlichkeit trat, verführen den Betrachter zu vorschnellen Schlüssen bezüglich der Bedeutung und lassen ihn damit in eine Falle tappen. Erst bei näherer Betrachtung erkennen sie ihren Seh-Fehler und interpretieren die Darstellung anders. Durch den zweifachen Erkenntnisgewinn verinnerlichen die Betrachter das Geschaute nicht nur revidiert, sondern deutlich intensiver. In unserem Fall handelt es sich bei dem Fallenbild um eine Installation, die scheinbar einen gedeckten Kaffeetisch zeigt. Erst nachdem man genauer hingeschaut hat, offenbart sich eine schreckliche Erkenntnis: Fotos von Händen im Erdreich symbolisieren die Überreste der ermordeten Kinder und konterkarieren die scheinbar friedliche Atmosphäre des gemeinsamen Beisammenseins am Tisch. 

„Der gedeckte Tisch“, Installation der 9Rb (Holztisch, Kaffeeservice, Vase, Album und Fotos) 2021

Angesichts des ukrainischen Unverständnisses über das Fehlen einer zentralen bundesdeutschen Gedenkstätte für die Opfer ihres von Wehrmacht und SS verwüsteten Landes, soll unsere Erinnerungspräsentation einen bescheidenen Beitrag dazu leisten, dem Vergessen des Holocaust im allgemeinen und der Erinnerung an die unzähligen ukrainischen Opfer im speziellen entgegenzuwirken.

 

Text, Fotos und Fotoarbeiten: Dr. Joest Leopold

Zurück