IN MEMORIAM…Oradour-sur-Glane, 10.06.1944

„Jedesmal, wenn ich in eine solche Kirche komme, muss ich wieder hinausgehen. Es schnürt mir den Hals zu.“

IN MEMORIAM…Oradour-sur-Glane, 10.06.1944

 

Foto J. Leopold 2020

Nach der Landung der Alliierten, am 6. Juni 1944 in der Normandie, kam es in Frankreich zu zahlreichen Partisanenaktionen gegen die deutsche Besatzungsmacht. Widerstandskämpfer wollten mit ihren Angriffen auf die Wehrmacht und ihre Logistik den alliierten Vormarsch flankierend unterstützen. In Tulle, südlich von Limoges, kam es zu schweren Zusammenstößen, in deren Folge die SS 99 willkürlich verhaftete Zivilisten als Rache für die Partisanenangriffe erhängen ließ. Verantwortlich für diese und alle weiteren Kriegsverbrechen im Limousin war die SS-Panzer-Division „Das Reich“ unter SS-Gruppenführer H. Lammerding. Um die französische Bevölkerung einzuschüchtern und die Machtverhältnisse zu demonstrieren, erhielt Lammerding vom Bataillonsführer A. Diekmann den Befehl, die Kleinstadt Oradour-sur-Glane - nordwestlich von Limoges - vollständig zu vernichten. Vier Tage nach der Invasion der Alliierten und nur einen Tag nach der Bluttat von Tulle, umstellten die SS-Soldaten der Panzer-Division „Das Reich“ die Ortschaft und selektierten die gesamte Einwohnerschaft nach Geschlechtern. Frauen, Mädchen und Kleinkinder sperrte man in das Kirchengebäude der Stadt, während Männer und Jungen in einigen Garagen und Scheunen am Ortsrand eingepfercht wurden. Kurz darauf zündeten die deutschen Soldaten Rauchbomben im Altarraum der Kirche, um die Eingesperrten zu ersticken. Nachdem der Versuch keine vollständige Tötung der Frauen und Mädchen herbeiführte, warfen die Deutschen Handgranaten durch die Kirchenfenster und zündeten anschließend das Kirchengebäude an. Um zu verhindern, dass einzelnen Gefangenen die Flucht gelang, schoss man mit Maschinengewehren in die Brandruine. In diesem Inferno starben 254 Frauen und 207 Mädchen und Kleinkinder einen entsetzlichen Tod.

Noch während des Massenmordes in der Kirche, begannen weitere SS-Soldaten mit der Erschießung der Männer und Jungen. Sie öffneten die Garagen- und Scheunentore und schossen ungezielt mittels MG-Salven unaufhörlich in die sich zusammendrängenden Gruppen aus verängstigten männlichen Einwohnern. Hier fanden mindestens 180 Opfer den Tod. Etwa fünf junge Männer überlebten den Massenmord, weil sie unter den Leichenbergen ihrer Leidensgefährten lagen und lediglich schwer angeschossen worden waren. 

Zum Abschluss dieses grausamen Kriegsverbrechens zündete die SS die gesamte Ortschaft an, um den Befehl der totalen Vernichtung zu vollenden. Lediglich 10 Prozent der bestialisch ermordeten und zum Teil nachträglich geschändeten Opfer konnte anschließend einwandfrei identifiziert und in privaten Gräbern des örtlichen Friedhofes bestattet werden. Nach dem Krieg entstand eine neue Ortschaft in unmittelbarer Nachbarschaft der Ruinen, die als Mahnmal erhalten blieben und bis heute ein nationaler Gedenkort sind. Wer die Stätte einmal besucht hat, spürt noch heute die bedrückende Stille, die über den Ruinen lastet und die meisten Besucher schweigen lässt.

Detail des zerstörten Ortes (historisches Foto: Internetfund)

Das Massaker an der Einwohnerschaft der französischen Kleinstadt Oradour-sur-Glane ist das schwerste Einzelverbrechen der Deutschen an der Zivilbevölkerung Frankreichs und eines der zahlreichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das in der Bundesrepublik Deutschland bis heute niemals juristisch aufgearbeitet wurde! Nach französischen Gerichtsverhandlungen im Jahre 1953 kam es zu wenigen Verurteilungen gegen beteiligte Elsässer, denen in der Regel Begnadigungen und frühzeitige Haftentlassungen folgten. Weil die französische Justiz nach der Gründung der Bundesrepublik keine Möglichkeiten mehr hatte, die deutschen Täter zu verfolgen, gab es lediglich die Verurteilung Lammerdings in Abwesenheit; weitere Untersuchungen und Anklagen verliefen im Sande. In der Bundesrepublik Deutschland musste kein Mitglied der SS-Panzer-Division „Das Reich“ wegen des Massakers von Oradour mit juristischen Folgen rechnen. Lammerding starb 1971 hoch geachtet in Düsseldorf. Seine Bestattung geriet zu einer Parade ehemaliger Kameraden, die in Wehrmachtsuniformen teilnahmen. So wundert es nicht, dass die wenigen Überlebenden und ihre Angehörigen aus anderen Ortschaften den Aufbau der deutsch-französischen Freundschaft seit den 1950er Jahren eher skeptisch begleiteten. Es dauerte bis ins Jahr 2013, dass man einem deutschen Staatsoberhaupt die Teilnahme an den jährlichen Gedenkveranstaltungen in Oradour gestattete. Erst Bundespräsident J. Gauck begegnete den Hinterbliebenen und dem Memorial an der Seite des französischen Staatspräsidenten Hollande in stillem Gedenken.

Im Rahmen des Huder Erinnerungsprojektes IN MEMORIAM… haben sich die Schülerinnen und Schüler der aktuellen Klasse 9Ga intensiv mit dem Massaker von Oradour, seiner Vorgeschichte und den weitreichenden Folgen für die Aussöhnung mit Frankreich beschäftigt. Kein anderes Verbrechen verdeutlicht auf diese Art die besondere Schwere der deutschen Schuld gegenüber diesem europäischen Nachbarn so stark wie das Massaker von Oradour-sur-Glane. Es sind Verbrechen wie dieses, an denen sich die menschliche Größe der Opfer erkennen lässt, wenn es um die Vergebung und den Aufbau einer wahren Partnerschaft geht. Städtepartnerschaften und Schulaustauschprogramme geben unter anderem ein Bild von der neuen Begegnung dieser beiden Völker zu erkennen. Auch die Peter-Ustinov-Schule pflegt seit Langem eine Schulpartnerschaft mit dem Collège Henri Lefeuvre in Arnage bei Le Mans. Heute stehen sich mit den jungen Generationen andere Menschen gegenüber als damals, aber es bedarf der stetigen Erinnerung an diese Verbrechen, um einer Wiederholung vorzubeugen. So soll die erarbeitete Gedenktafel, auf der unsere deutschen Schulkinder von heute symbolisch die Opferrolle einnehmen, dem Vergessen entgegenwirken. Die unterrichtliche Beschäftigung mit der verstörenden Tat hat in den Lernenden Entsetzen und Solidarisierung ausgelöst – beides Voraussetzungen für eine Ablehnung von Extremismus und eine Unterstützung von Demokratie. 

Die Bereitschaft der Lernenden, sich persönlich in die Aufarbeitung des Verbrechens und in die ästhetische Umsetzung einzubringen war groß und gibt berechtigte Hoffnung für den Fortbestand einer demokratischen und europäischen Menschlichkeit. Selbstlose Unterstützung erfuhr die Klasse durch die Firma tischlerei-hsk.de, die angesichts unfertiger Werkräume in der Schule am Huder Bach die Holztafel in Kirchensilhouette zur Verfügung stellte und damit wahren Bürgersinn lebte! Wir haben uns für die Erarbeitung der Präsentation ein Kirchenmodell ausgesucht, weil es auf erschütternde Weise zum Symbol des Todes geworden ist und dennoch darüber hinausweist. Die Eingangsworte zu diesem Text stammen übrigens von Jacqueline Pinède, einer Frau, die dem Massaker als Kind entging, weil sie sich vor der Selektion verstecken konnte…

Die Huder Erinnerungstafel der 9Ga, Fotocollage und Stoff auf Holz, 2020/2021

Text und Fotos: Dr. Joest Leopold

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